Im Dienste der Firma, nicht des Managements
Vor bald fünf Jahren läutete ein denkwürdiges Votum des Nestlé-Aktionariats eine Wende in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte ein. Seither setzt ACTARES sein Engagement für einen Mentalitätswandel in der Führung von Unternehmen unermüdlich fort.
von Christian Campiche
Am 14. April 2005: An der Nestlé-Generalversammlung im Lausanner Palais de Beaulieu herrscht eine gespannte Atmosphäre. Die Traktanden lassen eine hitzige Debatte erwarten. Unterstützt von ACTARES hat die Stiftung Ethos drei Anträge zu verschiedenen Statutenänderungen eingereicht. Gefordert wird insbesondere ein Verbot der Ämterkumulation. Diese erlaubt es dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung, gleichzeitig das Amt des Verwaltungsratspräsidenten auszuüben. Die Antragsteller sollten nicht enttäuscht werden. Das Abstimmungsergebnis ist spektakulär: Trotz enormen Drucks auf die Aktionärinnen und Aktionäre - namentlich durch die Androhung eines Rücktritts des Verwaltungsrats in corpore im Falle einer Annahme des Antrags - folgen nur gerade 51% der Stimmberechtigten der Empfehlung des Verwaltungsrates, das statutarische Verbot des Doppelmandats abzulehnen.
Doppelmandat
Das Doppelmandat von Peter Brabeck-‑Letmathe wird am Ende der 41/2-stündigen Versammlung zwar bestätigt, aber das deutliche Votum des Aktionariats veranlasst das Unternehmen zu einer sofortigen Reaktion: Nestlé versichert, das Doppelmandat werde auf höchstens zwei Jahre begrenzt und der Verwaltungsratspräsident und CEO verzichte auf seinen Sitz im Vergütungsausschuss. Dieser Erfolg illustriert, welch weiten Weg die Wirtschaft seit dem Zusammenschluss der beiden Vorläuferorganisationen CANES (Aktionärsvereinigung bei Nestlé) und VkA (Verein der kritischen AktionärInnen der Bankgesellschaft) zurückgelegt hat. Ausschlaggebend für den Zusammenschluss der beiden Organisationen, die seit ihrer Gründung gegen die Passivität der Kleinaktionäre ankämpften und sich für gesellschaftliche und ökologische Anliegen einsetzten, war die Notwendigkeit, ihr Tätigkeitsfeld auszudehnen. Dies betonte ACTARES-‑Präsidentin Catherine Herold an der Gründungspressekonferenz im April 2000.
Zivilgesellschaftliche Rolle
Laut Herold standen ab 1996 zwei Optionen zur Diskussion: die Schaffung einer schweizerischen Organisation für Unternehmensethik und die Gründung einer Aktionärsvereinigung. Die Wahl fiel schliesslich auf die zweite Variante. Die Arbeitsweise von ACTARES orientiert sich am Grundsatz des nachhaltigen Wirtschaftens, der seinerseits auf drei Pfeilern ruht: Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Für ACTARES ist jedes Unternehmen ein Mitglied der Gesellschaft, das mit zahlreichen Partnern interagiert und damit eine zivilgesellschaftliche Rolle spielt. Wie Roby Tschopp, Geschäftsführer von ACTARES, hinzufügt, musste zunächst das Instrumentarium zur Analyse der Nachhaltigkeit von Unternehmen entwi-‑ckelt werden. 2002 veröffentlichten nur gerade sechs Schweizer Grossunternehmen einen Nachhaltigkeitsbericht. Diese wurden in einer 2003 erschienenen Untersuchung von ACTARES verglichen. Im Jahr zuvor hatte ACTARES im Rahmen einer Befragung die Chancengleichheit von Frauen und Männern in fünf Unternehmen analysiert (30 waren angefragt worden). Schon damals brachte ACTARES an den Generalversammlungen ausgewählte eigene Themen zur Sprache, folgte jedoch bei der Stimmrechtsausübung den Empfehlungen von Ethos. Seit 2006 befolgt ACTARES eigene Abstimmungsrichtlinien und vertritt manchmal andere Positionen als die Stiftung Ethos. Diese Richtlinien werden auf die 20 SMI-‑Unternehmen systematisch angewendet. In der Folge konzentrierte sich ACTARES vermehrt auf direkte Kontakte zu Unternehmen und überliess die Forschung spezialisierten Institutionen, zum Beispiel dem Centre Info in Freiburg. Bei Bedarf gibt es eine Zusammenarbeit mit Universitäten und Fachhochschulen. Daneben stellt ACTARES von Zeit zu Zeit den SMI-‑Unternehmen spezifische Fragen, ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.
Tiefgreifender Wandel
Aktives Aktionariat, nachhaltiges Wirtschaften - die von ACTARES (wie auch von Ethos) verfochtenen Grundwerte erinnern auf den ersten Blick an das Credo von Weltverbesserern. Dabei sind sie durchaus mit gewissen Prinzipien des Liberalismus vereinbar. Schliesslich entstand ACTARES aus dem Zusammenschluss von Nestlé- und UBS-‑Aktionären, die gewiss kein Interesse an einem Kurszerfall hatten. Die Philosophie von ACTARES (einer Vereinigung mit heute über 1000 Mitgliedern, Tendenz steigend) versteht sich als Antwort auf die Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre im Bereich der Corporate Governance und ist Teil davon. Die Weltwirtschaft, geschüttelt durch eine Folge von Krisen, befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Seit der Jahrtausendwende treten die Auswüchse des Systems besonders krass zutage. 2001 war nicht nur das Jahr der Terroranschläge in New York, sondern auch jenes des Untergangs des US-‑amerikanischen Energieriesen Enron, der bis dahin grössten Firmenpleite der Geschichte. 2002 und 2003 machten die Affären um Arthur Andersen, Worldcom, Parmalat und andere Konzerne, die bis anhin als Vorzeigeunternehmen galten, gravierende Mängel in der Führung und Überwachung sichtbar. Die Revisionsfirmen standen im Kreuzfeuer der Kritik. 2002 gelangte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu dem vernichtenden Fazit, wonach Risiken jahrelang und vorsätzlich vertuscht worden seien. 1999 hatte die Organisation mit Sitz in Paris erstmals Richtlinien für die Corporate Governance herausgegeben, die den Behörden, Kontrollinstanzen und Marktteilnehmern konkrete Anhaltspunkte für die Verbesserung des gesetzlichen, institutionellen und reglementarischen Dispositivs lieferten, welches den Rahmen für die Corporate Governance insbesondere von börsenkotierten Unternehmen definiert.
Vertrauensverlust
All diese Affären riefen eine tiefe Empörung hervor, denn letztlich waren es die Aktionärinnen und Aktionäre, Gläubiger und Arbeitnehmenden, die die Zeche bezahlen mussten - so auch in der Schweiz im Falle von Swissair und UBS. Das verlorene Vertrauen lässt sich nur durch eine radikale Reform der Corporate Governance zurückgewinnen. Nicht von ungefähr erachtet der Lausanner Anwalt Jean-‑Luc Chenaux die Führung und Überwachung von Unternehmen als wichtigen Bestandteil der nachhaltigen Entwicklung im Sinne eines Wertesystems, das auf die Beherrschung der Risiken und die Wahrung gesellschaftli-‑cher und ökologischer Regeln abzielt. Treffender lässt sich die Philosophie von ACTARES nicht zusammenfassen. Das Engagement von ACTARES in den letzten Jahren widerspiegelt diese weltweite Bewusstwerdung. 2006 schlug ACTARES im Rahmen der Vernehmlassung über die Privatisierung von Swisscom vor, die Börsenkotierung des Unternehmens rückgängig zu machen. Damit erhielte der Bund als Mehrheitsaktionär den benötigten Spielraum, um Swisscom an einen aus technischer wie finanzieller Sicht soliden Partner zu verkaufen. Laut ACTARES liesse sich auf diese Weise eine feindliche Übernahme weitaus wirksamer verhindern als durch eine zu breite Streuung der Aktien.
Kritische Interventionen
2007 zeigte eine ACTARES-‑Umfrage, dass über die Hälfte der grössten Schweizer Unternehmen politische Parteien unterstützt. Auch 2008 stellte die Organisation an den Generalversammlungen grosser börsenkotierter Unternehmen zahlreiche kritische Fragen, was jedoch von den Medien häufig ignoriert wurde. So konfrontierte ACTARES Roche und Novartis mit der Problematik der menschenrechtswidrigen Organtransplantationen in China und verlangte von Syngenta eine Rechtfertigung der Politik des Unternehmens in Sachen GVO (gentechnisch veränderte Organismen). Parallel dazu forderte ACTARES ein Moratorium für Agroenergie und wiederholte die Kritik an der Vermarktung des hochtoxischen Insektizids Paraquat. An der Generalversammlung von Zurich Financial Services verlangte die Organisation eine Ausweitung der kürzlich vom Versicherungskonzern lancierten Klima-‑Initiative. Auch die Grossbanken wurden aufgrund ihrer enormen Abschreibungen im Zuge der Hypothekenkrise in den USA ins Visier genommen und mit der Frage konfrontiert, ob sie etwas von Risiken verstehen.
Bosse im Machtrausch
2009 ging ACTARES gemeinsam mit Ethos in der Frage der Entlöhnung von Top-‑Managern erneut auf die Barrikaden. Die Debatte, die 2002 mit der Verabschiedung des Sarbanes-‑Oxley Act in den USA in Gang gekommen war - ein Gesetz, das die Verantwortung von Unternehmensführern für die Rechnungslegung und die Aufsicht über die Revisionsgesellschaften regelt -, erhielt im Zuge der Finanzkrise neuen Schwung. Die Ära, in der sich unersättliche Top-‑Manager mit grenzenloser und ungeteilter Macht behaupten konnten und in der es niemand wagte, unbequeme Fragen zu stellen, neigt sich dem Ende entgegen. Unter dem Druck von ACTARES und Ethos musste sich Nestlé noch vor dem Abschluss der Aktienrechtsrevision diesem Thema stellen. Keine Frage: Gäbe es ACTARES und Ethos nicht, man müsste sie erfinden! Noch bleibt viel zu tun. Durch ihr unermüdliches Engagement haben diese beiden Organisationen massgeblich zu mehr Transparenz in börsenkotierten Unternehmen beigetragen. Sowohl die 2007 in Kraft gesetzten neuen Bestimmungen des Obligationenrechts wie auch der 2002 vom Wirtschaftsdachverband economiesuisse herausgegebene und 2007 überarbeitete Code of Best Practice bezeugen den Willen, die Interessen des Unternehmens über diejenigen des Managements zu stellen.
Christian Campiche ist Journalist und Schriftsteller, Verfasser des Buches «Le krach mondial - Chronique d’une débâcle annoncée - Et après?» Editions de L’Hèbe, 2009
Meilensteine in der Geschichte von ACTARES
2000 Gründungsversammlung am 15.3. in Freiburg. Mitglieder der inzwischen aufgelösten Organisationen Canes (Aktionärsvereinigung bei Nestlé) und VkA (Verein der kritischen AktionärInnen der Bankgesellschaft) schliessen sich zum Verein ACTARES zusammen.
2002 Gemeinsam mit der Fachstelle UND führt ACTARES eine umfassende Befragung über die Chancengleichheit von Frauen und Männern in den wichtigsten börsenkotierten Unternehmen der Schweiz durch.
2003 ACTARES analysiert und vergleicht die ersten sechs Nachhaltigkeitsberichte, welche von Schweizer Konzernen veröffentlicht wurden.
2005 ACTARES erarbeitet eigene Abstimmungsrichtlinien für die Generalversammlungen von Unternehmen. Statt wie bisher den Parolen von Ethos zu folgen, vertritt ACTARES nun unabhängige Abstimmungspositionen.
2007 ACTARES beginnt, für sämtliche im Swiss Market Index SMI erfassten Unternehmen systematisch Abstimmungsempfehlungen herauszugeben.
2008 ACTARES befasst sich intensiv mit den Turbulenzen rund um die Grossbank UBS. Die Zahl der an ACTARES übertragenen Stimmrechte erreicht einen neuen Rekord.